Fragen zu Yoga und Gesundheit

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Hatha-Yoga – gestern und heute

Hatha war der Name, den vor etwa 600 Jahren eine nordindische Sekte praktizierender Yogis ihrem Verständnis von Yoga gab. Anders als oft behauptet, war es keineswegs ein auf Körperübungen beschränkter Yoga, sondern folgte inhaltlich den religiösen und an magischem Glauben orientierten Strömungen seiner Zeit. Dass der Begriff Hatha Yoga satt dessen für einen auf Körperpraxis beschränkten Yoga steht, ist eine moderne Neudeutung. Unterstützt wird sie heute bei uns durch die Sprachregelung der Krankenkassenverbände. In ihrer Präventionsarbeit nutzen sie die Bezeichnung Hatha Yoga, um einen damit beschriebenen Kurs abzugrenzen gegenüber Yoga-Angeboten, in denen hindu­istische Missionsarbeit betrieben wird. Auch wenn damit den historischen Protagonisten des Hatha Yoga unrecht getan wird, ist dies ein erfreuliches Bemühen. Allerdings erweist es sich in der Praxis als wenig erfolgreich. Beispiele wie das von Yoga Vidya oder Sivananda-Yoga zeigen eindrucksvoll, wie hinduistische Indoktrination in Angebote unter der Überschrift Hatha Yoga verpackt werden können.

Eine lange Geschichte

Ihre Blüte erfuhr der Hatha Yoga vom 12ten bis 15ten Jahrhundert. Der wichtigste auf uns gekommene Text ist die Hatha (Yoga) Pradipika aus dem 15ten Jahrhundert, eine (allerdings keineswegs vollständige) Sammlung einiger wichtiger damals gängiger Yogaübungen: neben Körperhaltungen waren das vor allem zahlreiche Atemtechniken und Anleitungen zur Meditation.

Es war das große Verdienst des Yoga in seiner Blütezeit vor knapp 800 Jahren, die Körper- und Atemübungen des Yoga zu einer Vielfalt entwickelt zu haben, von der wir bis heute profitieren. Gegen die vorherrschenden orthodoxen religiösen Strömungen in Indien rückte der Körper und der Atem in den Mittelpunkt einer Praxis, die mit einem besonderen Versprechen faszinierte: Höchste Glückseeligkeit, tiefe Erkenntnis, ewige Gesundheit und ein langes oder gar ewiges Leben lassen sich durch rigorose Disziplin in ausgefeilten Körper- Atem- und Meditationstechniken erreichen.

Magie und Alchemie

In diesem Zusammenhang spekulierten die Protagonisten des Hatha Yoga auch darüber, wie der menschliche Körper funktioniert und welche Strukturen ihn konstituieren. Es ist bewundernswert, mit wie viel Mühe und Fantasie damals versucht wurde, einen Erklärungsrahmen für die erlebten, aber noch viel mehr für die erhofften Wirkungen von Yogapraxis zu entwickeln. Entsprechend dem damaligen Zeitgeist waren die Erklärungsversuche des Hatha Yoga allerdings beherrscht von einem nie hinterfragten Glauben an die Realität magischer Kräfte und die Wahrheit einer weit verbreiteten alchemistischen Lehre. Man war überzeugt, über Wasser gehen oder sich in die Lüfte erheben, aus Quecksilber Gold gewinnen, das ewige Leben finden, allmächtig über die Gedanken anderer Menschen und die Elemente herrschen zu können. Diese Weltsicht schlug sich nieder in den im Hatha Yoga gängigen Wirkerklärungen zu den einzelnen Āsanas,  den damals für sehr wichtig erachteten Atemübungen und den verschiedenen Meditationstechniken. (1)

Der Glaube an ein Lebens-Elexir

Dabei glaubte man ganz ähnlich wie im mittelalterlichen Europa auch an eine alle Lebensvorgänge kontrollierende Lebenskraft. Vorgestellt wurde sie als ein besonderes Etwas, manchmal als immaterieller Hauch oder Wind, manchmal als ein durchaus materielles Lebens-Elexir.  In der Terminologie des Yoga nannte man es zum Beispiel Vayu, Prāna oder Amrit, im damaligen Europa oft Pneuma. Oft gebrauchte man den Begriff Prāna allerdings ganz einfach als Synonym für den offensichtlichsten aller Lebensbeweise: die Ein- und Ausatmung. Diese Bedeutung lässt sich auch noch zu Zeiten des Hatha Yoga finden. Gleichzeitig wurden aber die Vorstellungen darüber immer spekulativer. Es  entstand der Glaube, Prāna sei etwas, das durch immer detaillierter beschriebene unzählige Kanäle oder Röhren (sogenannte Nādīs) im menschlichen Körper zirkuliere. Manchmal ganz handfest verstanden als Flüssigkeit, manchmal aber auch als etwas der Wahrnehmung nicht Yoga praktizierender Menschen prinzipiell Unzugängliches. Man war sich dabei jedoch uneins nicht nur über seine Beschaffenheit, sondern auch über den Ort, von dem aus diese Kanäle das Prāna im Körper verteilen würden. Für einige war es der Nabel, für andere die Brust, wieder andere bevorzugten den Beckenbereich. Es ist dies nur einer der vielen oft eklatanten Widerspüche und Unvereinbarkeiten in den damals herrschenden Körpervorstellungen. Tatsächlich waren es Spekulationen, die sich an keiner Realität messen lassen mussten und nicht etwa Ergebnis eines ergebnisoffenen Erforschens von Lebensprozessen oder eines  unvoreingenommenen meditativen Lauschens nach innen. Heute lässt sich immer besser nachvollziehen, wie diese intellektuellen  Gedankengebäude aus den Dogmen der damals gängigen Lehren von Religion, Magie und Alchemie über den Mensch und seine Welt entwickelt wurden.(2) Ähnlich spekulativ waren auch die Körpervorstellungen jener Zeit im Abendland. (3)

Gleichzeitig erklärte der Hatha Yoga die Körperfunktionen und ihre Beeinflussung durch Āsanas und Atemübungen in einer radikal mechanistischen Weise. (4) Zumindest in ihrer Realitätsferne ähnelt sie damit vielen modernen pseudowissenschaftlichen Erklärungen. Ein profunder Kenner der Geschichte, Texte und Praxis des Hatha Yoga beschreibt die damalige Körpervorstellung als ein pneumatisches, hydraulisches und thermodynamisches System, in dem Lebenssäfte erhitzt, kanalisiert und schließlich zum Nektar des unsterblichen Lebens veredelt werden. (5)

Alles nur Symbolik?

Angesichts des heute so wenig nachvollziehbaren Menschenbilds des Hatha Yoga suchen manche einen Ausweg in der These, die entsprechenden Darstellungen – etwa das Versprechen, Unsterblichkeit zu erlangen – seinen nur symbolisch gemeint. In Wirklichkeit ginge es dabei um die verschlüsselte Beschreibung einer feinstofflichen Welt, die fortgeschrittene Yogis in ihrer Praxis erfahren hätten. Dieser Sicht widerspricht allerdings alles, was wir heute über das Denken und den Glauben in der damaligen Welt des Hatha Yoga wissen. Wonach die Yogīs dieser Zeit wirklich strebten war, sich mithilfe ausgefeilter Techniken ein über Generationen hinweg tradiertes spekulatives Welt- und Menschenbild  zu eigen zu machen. Offensichtlich gelang es einigen von ihnen durch rigorose Praxis und Askese komplexe Glaubensdogmen in eine körperliche Erfahrung umzusetzen – in dieser Hinsicht vergleichbar mit bestimmten christlichen Meditationstraditionen. (6) In der Tradition des Tantra, die den Hatha Yoga hervorbrachte, gehörten zu diesen Dogmen bunte Götterwelten, Legenden von gen Himmel fliegenden wilden Frauen, der Glaube an die Allmacht des männlichen Samens oder die Existenz besonders energiereicher und entlang der Wirbelsäule aufgereihter Körperorte. Nach langer Einweisungszeit und intensivster Praxis ließ sich diese Weltsicht schließlich erleben und visualisieren – auf eine durch den Lehrer vorgegebener Weise auch an jeder gewünschten Stelle des Körpers.

Die Begeisterung der Anhänger für eine zunehmende Exklusivität ihrer Praktiken und die Nähe zu Magie, Alchemie und Cannabis waren die wichtigsten Gründe für den Niedergang des Hatha Yoga mit Beginn des15ten Jahrhundert einsetzte. Die ehemals durchaus geachteten Gemeinschaften der Hatha-Yogis versanken in der Bedeutungslosigkeit oder ihre Mitglieder fanden ein neues Betätigungsfeld als körperlich gut belastbare Soldaten im Dienste nordindischer Fürsten (7). Yogaübungen begegnete man in Indien nun vor allem in Form akrobatischer Jahrmarktsattraktionen oder als Teil recht bizarrer Praktiken zur Erlangung magischer Kräfte und ewigen Lebens. Die ersten Berichte über Yoga, die den Westen im 19. Jahrhundert erreichten, geben dies trotz ihrer kolonialen Attitüde recht treffend wieder (8). Die Reduzierung des Yoga auf eine tollkühne Akrobatik und der Glaube an eine ihm innewohnende Magie wirkt bis in unsere Zeit fort – in landläufigen Assoziationen zu Yoga ebenso wie in manchen immer noch halsbrecherischen Angeboten, die heute auf dem großen Yogamarkt zu finden sind.

Hatha Yoga heute

Wird heute bei der Erklärung von Yogawirkungen die "Tradition“ bemüht, dann lässt sich dabei aber nur mit Mühe ein ausgewiesener Bezug auf den vor mehr als einem halben Jahrtausend real existierenden Hatha Yoga, seine Praktiken und seine Weltsichten finden. Vielmehr begegnet uns in solchen Erkärungen ein erst in den letzten hundert Jahren entstandenes buntes Gemisch aus ganz unterschiedlichen Versatzstücken. Eingebettet sind sie meist in Vorstellungen, die wesentlich geprägt wurden von den esoterischen und magischen Lehren der auf westlichem Okkultismus und freimaurerischen Ideen gegründeten Theosophie Ende des 19ten-Jahrhunderts. Für ihre Verbreitung sorgte vor allem indische Mönch und Philosoph Swami Vivekananda (1863-1902), dessen davon stark beeinflusste Darstellung des Yoga im Westen wie in Indien bis heute großen Einfluss ausübt. (9)

Kurz:  Die Konzepte, mit denen zu Zeiten des Hatha Yoga versucht wurde, die Möglichkeiten und Wirkungen von Yogapraxis zu erklären, sind weder mit unserem heutigen Wissensstand noch mit unserem heutigen Welt- und Menschenbild kompatibel. Und trotzdem: In den Zeiten des Hatha Yoga wurde zum ersten Mal nach den Wirkungen von Körper- und Atemübungen gefragt, wurden neue Übungs-Techniken erfunden und die Grundlage gelegt für die Entwicklung des großen Reichtums und einer großen Vielfalt von Übungen, die uns bis heute inspiriert.

 

Anmerkungen

(1) Die Wirkungen der für den Hatha Yoga wirkungsvollsten Übungen (die sogenannten Mudrā, eine Verbindung bestimmter Körperhaltungen mit besonderen Atemtechniken) werden in der Hatha Yoga Pradīpikā aus dem 15ten Jahrhundert so beschrieben: Sie »besiegen Alter und Tod, schenken die acht Siddhi« (1. Den Körper unendlich klein - unsichtbar- werden lassen; 2. ihn unendlich groß werden lassen; 3. unendlich schwer werden; 4. gewichtslos werden; 5. sich an jedem Ort materialisieren können; 6. alles erschaffen, was man sich wünscht; 7. völlige Herrschaft erlangen und schließlich 8. sich jeden Menschen untertan machen können. Anm. d. Verf.).  Swami Digambarji (Ed.), Hatha Yoga Pradīpikā, Lonavla 1970, S. 74. Und weiter: »Selbst das schlimmste Gift wird so verdaut als wäre es Nektar«, (...) der Samen eines Yogi »wird auch dann nicht mehr vergeudet, wenn er von einer jungen Frau umarmt wird«, (...) man erlangt »Wissen über Vergangenheit und Zukunft und kann sich erfolgreich in die Lüfte erheben« (ebenda, Verse 15, 41, 98).

(2) Dazu ausführlich: David Gordon White, The Alchemical Body, Siddha Traditions in Medieval India, University of Chicago Press, 1996. Wenn auch nicht mehr auf dem aktuellen Stand der Forschung, in seinem sehr umfangreichen Überblick noch immer unersetzlich: N.N. Nhattacharyya, History of the Tantric Religion. An Historical, Ritualistic and Philosophical Study. New Delhi, 2005, 11982.

(3) Dort glaubte man zum Beispiel an ein »Pneuma«,  dessen Ursprung manche im Herzraum orteten, andere im Gehirn, und manche glaubten, ein Lebenshauch zirkuliere zusammen mit dem Blut in den Adern, in der männlichen Samenflüssigkeit oder in der Flüssigkeit, die das Rückenmark umspült.

(4) Ein eindrücklicher Ausdruck davon ist der ernst gemeinte (und deshalb auch vielfach praktizierte) Vorschlag, sich in einer schmerzhaften und langwierigen Prozedur das Zungenbändchen zu durchschneiden (Hatha Yoga Pradīpīka, 3 – 37 ff). Dadurch wird es möglich, die Zunge so weit nach hinten in den Rachenraum zu führen, dass die Atemwege vollständig geschlossen werden. So konnte der Atem extrem lang angehalten werden. Man glaubte, damit ein mächtiges inneres Feuer zu entfachen, mit dessen Hilfe der Körper von allen seinen  Unreinheiten befreit würde, die Voraussetzung für ewiges Leben und Freiheit von jeglicher Krankheit

(5) D. G. White, Yoga, Brief History of an Idea, in: D. G. White (Ed.) Yoga in Practice, Princeton University Press, 2012, S 15 ff.

An gleicher Stelle ein knapper, aber kenntnisreicher Abriss der Geschichte des Hatha Yoga und der sogenannten Nāth Yogīs, eine Glaubensgemeinschaft, aus der heraus sich seit dem 12ten Jahrhundert der Hatha Yoga entwickelte und seine Blüte fand.

Als Beispiel der immer umfangreicheren neuen Forschung über das Welt- und Körperbild des Hatha Yoga die schon zitierte Aufsatzsammlung: David Gordon White (Ed.), Yoga in Practice, Priceton University Press, 2012, mit 21 wissenschaftlichen Aufsätzen einer neuen Generation von IndologInnen, die nicht nur ExpertInnen alter Sanskrittexte und indischer Geschichte sind, sondern oft auch über intensive Yogaerfahrung verfügen. Auf diesem Hintergrund forschen sie darüber, was jene Menschen, die damals den Hatha Yoga entwickelten, wirklich bewegte. Informativ auch: James Mallison, The Khecarīvdyā of Ādinātha, Routledge Studies in Tantric Traditions, New York, 2007

(6) Karl Baier beschreibt kenntnisreich, wie  sowohl in der abendländisch (christlichen) wie auch östlichen (in seinem Beispiel buddhistischen) Tradition ganz ähnliche Wege beschritten wurden, Glaubensdogmen und Weltbilder in einem Prozess langjähriger Übungspraxis zu „verinnerlichen“ und in eine emotionale ganz persönliche Erfahrung zu wandeln. Karl Baier, Lesen als spirituelle Praxis in christlicher und bud­dhistischer Tradition, in: Baier/Polak/Schwienhorst-Schönberger, Text und Mystik, zum Verhältnis von Textauslegung und kontemplativer Praxis, Vienna University Press 2013

(7) Vgl. William Pinch, Warrior Ascetics an Indian Empires, Cambridge University Press 2006. Vgl. David Gordon White, Yoga, Brief History of an Idea, in: D. G. White (Ed.), Yoga in Practice, Princeton University Press, 2012.

(8) Dazu anschaulich: Heiliger Gaukler, Fakir und Büßer, Das Bild des Yogin in den frühen neuzeitlichen Reiseberichten, in: Karl Baier, Yoga auf dem Weg nach Westen, Würzburg 1998.

(9) Von Vivekanda stammt zum Beispiel die oft irrtümlich für »traditionell« gehaltene Einteilung des Yoga in »vier Yogas« (Karma-Yoga, Bhakti-Yoga, Raja-Yoga und Jñana-Yoga) oder das »Prāna-Modell«, das bei der Wirkerklärung von Yoga die Arbeit mit Prāna in den Mittelpunkt stellt und mit der damals den Alltag revolutionierenden elektrischen Energie in Verbindung brachte. Seither ist auch die Rede über Yoga geprägt von Begriffen wie „energetisierend“, „energielenkend“, „mit Energien verbinden“, „heilende Energie“. Dazu ausführlich: Elisabeth de Michelis, A History of Modern Yoga, New York, 2004

 

Als download zum Weiterlesen:

Eine Kurze Geschichte des Pranayama